Die Hattie-Skala: Alles dreht sich um den Lehrer

(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Für manche hat er mit seiner gigantischen Bildungsstudie den Heiligen Gral der Schulforschung entdeckt. Erziehungswissenschaftler John Hattie wird auch in Österreich bald für Debatten sorgen.

Noch ist sein Buch nicht ins Deutsche übersetzt – und dennoch sorgt er schon für heftiges Rumoren in der österreichischen Bildungsszene: John Hattie. Noch nie von dem Mann gehört? Das dürfte sich demnächst ändern. Im Frühling wird sein Buch „Visible Learning“ auf Deutsch erscheinen. „Und das wird mit Sicherheit eine heftige Debatte auslösen“, erwartet etwa die Wiener Bildungsexpertin Heidi Schrodt.

Der neuseeländische Pädagoge hat sich zur Aufgabe gemacht, jene Frage zu beantworten, um die die Schule kreist (oder kreisen sollte): Was braucht guter Unterricht? Die Antwort, die Hattie gibt, scheint auf den ersten Blick (zu) simpel, um die große Aufregung zu rechtfertigen: Die beste Art, um Schule zu optimieren, ist, die Interaktion zwischen Lehrern und Schülern zu verbessern. Auf dem Weg dorthin kommt Hattie aber zu Erkenntnissen, die Bildungspolitiker, Reformpädagogen und Konservative gleichermaßen vor den Kopf stoßen.

Und: Hatties Ergebnisse sind schwer zurückzuweisen. Er weiß das. Und man sieht ihm das in seinen zahlreichen Videos an, die ihn etwa vor seinen Studenten zeigen. Denn seine Studie ist gigantisch, es ist die größte empirische Bildungsstudie, die es bislang gibt.

Der Erziehungswissenschaftler hat so ziemlich alles ausgewertet, was in englischer Sprache über die Einflussfaktoren für den Lernerfolg von Schülern vorliegt: rund 800 Metastudien, die auf über 50.000 einzelnen Studien mit 250 Millionen Schülern basieren. Herausgekommen ist nach mehr als 15 Jahren Arbeit eine Skala, auf der Hattie zeigt, was welchen Effekt hat – und welche Maßnahmen am wirkungsvollsten sind. Lernbedingungen, pädagogische Maßnahmen, Reformen – Hattie reiht sie. Von Rang eins bis 138.

Eine Liste für die Schule

Eine Liste mit den besten Maßnahmen: Diese scheinbar simple Form der Aufbereitung – manche Kritiker unterstellen Hattie eine Nähe zur Populärwissenschaft – ist sicherlich ein Mitgrund für das enorme Echo, das Hatties Arbeit ausgelöst hat. Im englischsprachigen Raum wurde der Neuseeländer nach der Veröffentlichung der Studie in Buchform vor knapp vier Jahren geradezu euphorisch rezipiert. Die Hattie-Skala sei, schrieb die britische „Times“, das Äquivalent zum Heiligen Gral in der Schulforschung.

Hatties rigorose Herangehensweise ist ein weiterer. Er legt den Finger auf das, was in der Bildungspolitik wehtut: auf das nicht empirisch belegte „anything goes“, die Beliebigkeit, die häufig praktiziert wird. Alles, was die Leistungen nicht verschlechtert – das trifft laut Hattie auf mehr als 95 Prozent der Maßnahmen zu –, ist viabel. Die Frage sollte jedoch nicht sein: Wie kann ich den Lernerfolg der Schüler im Vergleich zum Status quo verbessern? Sondern: What works best? Was – unter allen möglichen Maßnahmen – wirkt am stärksten?

Kleinere Klassen? Verrückt!

Vieles von dem, was bildungspolitisch diskutiert (oder umgesetzt) wird, ist bei Hattie unten durch. Lieblingsbeispiel: kleinere Klassen. Eine solche Reform, auch in Österreich erst im vergangenen Jahrzehnt mit viel Geld umgesetzt, sei „das Dümmste, Verrückteste, was man tun kann, um die Leistungen der Schüler zu verbessern“. Denn verglichen mit anderen Maßnahmen ist der Effekt verschwindend gering. Auf Hatties Skala landen kleinere Klassen auf Rang 106.

Quer über ideologische Linien hinweg gehen Hatties Urteile. Sitzen bleiben? Schlecht. Offener Unterricht? Keine Evidenz für die positive Wirkung. Mehr Geld oder andere Schulstrukturen? Irrelevant. Im Zentrum steht der Lehrer. Aber einer, für den wiederum die Schüler im Zentrum stehen. Der laufend evaluiert, wie sein Unterricht wirkt. Denn erst durch das Feedback wird Lernen sichtbar – „visible“.

Bleibt noch die Frage, was passiert, wenn die Debatte Österreich erreicht. Und wer John Hattie dann zu vereinnahmen versucht.

Zur Person

John Hattie (*1950) ist Erziehungswissenschaftler an der Uni Melbourne. Der gebürtige Neuseeländer beschäftigt sich mit den Einflussfaktoren für gute Schülerleistungen. Seine Erkenntnisse präsentierte er 2009 in dem Buch „Visible Learning“. Im Frühjahr erscheint das Buch im Schneider Verlag auf Deutsch. Mehr dazu unter: paedagogik.de [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.